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Rezension: Gerade gestern- Vom allmählichen Verschwinden des Gewohnten- Martin Meyer-Hanser

Der Autor dieses hervorragenden Buches ist der Schweizer Martin Meyer, der bis 2015 das Feuilleton der Neuen Züricher Zeitung leitete. Bereits 2004 erhielt er den Europäischen Essay-Preis Charles Veillon. Im Hanser Verlag sind einige bemerkenswerte Bücher von ihm erschienen.

Geboren wurde Martin Meyer 1951. Er kann also  schon recht lange auf den sich ständig verändernden Zeitgeist zurückblicken und scheint daraus eine Art Hobby gemacht zu haben.

Wie man der Vorbemerkung zu der hier vorliegenden spannend zu lesenden Textsammlung entnehmen kann, versucht das Werk zwischen Nostalgie und Gegenwartspathos eine Mitte zu finden. Dabei schreibt Martin Meyer so, dass man immer wieder innehält und begeistert ist wie er Vergangenes in seinen Sätzen ohne Larmoyanz einfängt.

Loslassen ist heute nicht einfach, das erfährt man im Essay "Zeitverlust" ganz nebenbei. Hier beginnt Meyer seinen Text mit den Worten: "Der entfesselte Narzissmus, der in den Spiegelbildern kristallisiert, die die bild- und tongebenden Digitalverfahren ermöglichen, wäre kein massiver Grund zur Sorge, wenn er nicht eine weitere der klassischen Todsünden bedienen würde: die Gier oder Sucht, davon nicht loslassen zu können und die Umwelt zu Dauerzeugen dafür aufzurufen."

Für den Autor sind handgeschriebene Briefe unendlich wertvoll geworden, weil sie Höhepunkte der Kommunikation zwischen Menschen darstellen, obschon sie für uns heute fast künstlich erscheinen und man in ihnen verdeckte Motive vermutet in unserer schönen neuen Welt des entfesselten Narzissmus, dem Dialoge offenbar fremd sind.

Martin Meyer besinnt sich vieler Dinge, die an Bedeutung verloren haben. Ganz klar, der Zeitgeist hat an Tempo zugelegt und wir mit ihm. Unmöglich die Texte an diesen Stelle im Einzelnen unter die Lupe zu nehmen. Man braucht sie nicht chronologisch zu lesen, aber selbst wenn man es tut, findet man sich sehr oft selbst wieder, erkennt wie man war, was man liebte und wie man heute nicht mehr  sein kann.

Nichts verändert uns mehr als der Zeitgeist. Sich ihm zu entziehen, ist noch nicht einmal möglich, wenn wir auf einer einsamen Insel leben, seit der Klimawandel uns zwingt, egal wo wir  uns hin verkrochen haben, auf die durch ihn bedingten Veränderungen vielschichtig  zu reagieren.

Dass Charismatiker dem Gestern angehören, wusste ich bislang noch nicht, wohl aber dass die Schönschrift ganz ähnlich wie der handgeschriebene Brief den Schlager "Marina, Marina" keine Lichtjahre überdauern konnten. Warum?  Vermutlich weil  die Wertschätzung des Du ein Ladenhüter geworden ist

Im Gegensatz zum Autor erhalte ich hin und wieder noch Ansichtskarten und freue mich über die Menschen, die entspannt und ohne Scham solchen alten Gewohnheiten nachgehen. Ansichtskarten zu versenden ist ja fast schon schrullig, aber man sollte bedenken: Schrulliges ist fast immer liebenswert.

Wer nicht schrullig, aber dennoch liebeswert sein möchte,  kann den Hula-Hoop kreisen lassen. Eine sportliche Übung steht nie im Verdacht gestrig zu sein, selbst wenn der Zeitgeist Kapriolen schlägt...

Empfehlenswert

Helga König

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Gerade gestern: Vom allmählichen Verschwinden des Gewohnten

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