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Rezension: Früher war alles besser. Ein rücksichtsloser Rückblick

Das vorliegende Buch enthält Texte (Begriffsdefinitionen) von Henryk M. Broder, Josef Joffe, Dirk Maxsteiner und Michael Miersch. Diese alphabetisch geordneten, beinahe in Form von Essays gestalteten Begriffsdefinitionen befassen sich mit Personen, Dingen, Sachverhalten und Denkkonstrukten, welche Personen, die älter als 50 Jahre sind, noch gut in Erinnerung haben, sofern sie nicht an Gedächtnisschwund leiden. Die Texte zeichnen sich durch Toleranz und Augenzwinkern aus und sind frei von Zynismus oder Sarkasmus gegenüber Absonderlichkeiten vergangener Tage, die gottlob ohne Wehmut betrachtet werden. Werturteile werden großzügig dem kleingeistigen Leser überlassen.

Die Lebenseinstellung der Vorachtundsechziger macht sich nicht zuletzt am Begriff "Ehehygiene" fest, die natürlich mit der sexuellen Revolution beantwortet werden musste. Broder, Jahrgang 1946, berichtet von einer Zeit, wo selbst unter Eheleuten nicht über Sex gesprochen wurde, sich dieser im Dunkeln und zwar in tiefgekühlten Schlafzimmern ereignete. Wollte man etwas über Geschlechtsverkehr und Fortpflanzung erfahren, war man auf die wenigen Aufklärungsbücher angewiesen, die sich mit dem Paarungsverhalten von Bienen, Barschen und Quallen auseinandersetzten, (vgl.: S.56). Ich war 1967 noch ein Kind und durfte den Film "Helga - Vom Werden des menschlichen Lebens" noch nicht sehen, den Broder erwähnt, erinnere mich aber wie über den Film gesprochen wurde, weil die "Film- Helga" eine Namensvettern von mir war und man in der Verwandtschaft Bedenken anmeldete, was aus mir bei diesem gebrandtmarkten Namen später mal werden würde. Nachdem ich im Rahmen des Begriffs "Ehehygiene" lese, worum es in dem Streifen ging, muss ich mich sehr über die Aufgeregtheiten wundern. Übrigens gelingt es Broder auf zwei Seiten sehr gut die Einstellung zur Sexualiät, die bis in die 70er Jahre hineinreichte, zu skizzieren, ohne sie als solche zu werten.

Man liest auch immer wieder von Speisen aus längst vergangenen Tagen, wie etwa "Falscher Hase", "Fondue", "Toast Hawaii", "Kalter Hund", "Käse-Igel", "Ragout fin", "Soleier" und von der Bezeichnung "Fräulein", die von den Feministinnen abgeschafft wurde und die einst im Büro mit Vorliebe eine "Klappstulle" aß. Josef Joffe schreibt davon, dass es ein emanzipatorisches Wagnis (feststellend nicht wertend) war, als Frau in den 50er und 60er Jahren Hosen zu tragen und Franke Levi Strauss mit den Jeans, die nach 1945 die Welt überschwemmten, letztlich der wahre Vater der Emanzipation sei. Ein bemerkenswertes Deutungsmuster. :-))

Gefallen hat mir Josef Joffes Begriffsdefinition für "Hüft- oder Strumpfhalter" (heute : Strapse), dem man- das schreibt Joffe allerdings nicht-, bereits als Kind in Form eines "Leibchens" trug, welches mich zumindest furchtbar abnervte. Ich zitiere: "...damals physikalisch notwendiges Accessoire, das die Strümpfe hochhielt, heute frauliche Konzession an Männerphantasien. Die die Trägerin als lästig und ebenso drückend empfindet." Herr Joffe scheint wirklich ein Frauenversteher zu sein. :-))

Michael Miersch kündigt das Aussterben der Intellektuellen in unserem Lande an, die ihren Status jahrelang damit rechtfertigten, Wächter zu sein, die aufpassen, dass die Deutschen nicht wieder durchdrehen und zur braunen Horde redigieren. Er konstatiert, dass der Wächterjob nicht mehr viel hergibt, seit die Mehrheit der Bevölkerung friedlich, tolerant und demokratisch geworden ist und sich bei den Themen, die heute für neue Erregungsmomente sorgen, die Reihen immer mehr lichten. (vgl.: S.98 -99). Dass der Kulturverfall nur wenige selbst ernannte Intellektuelle berührt, kann ich, dies nicht werten wollend, bestätigen.

Josef Joffe vergisst nicht zu erwähnen, dass es heutzutage in Deutschland keine Kindergärten mehr gibt, man diese nur noch im Ausland begrifflich vorfindet. In unserem Land gibt es nunmehr "Kitas". Die Kinder sind begrifflich verschwunden. Nicht zu Unrecht fragt Joffe: "Was kann schöner sein als die Kombo von Kind und Garten?"(vgl.: S. 105).

Broders Definition des "Liedermachens" finde ich überaus amüsant. Er vermutet, dass der erste Liedermacher Walter von der Vogelweide war und begründet dies auch. Anschließend schreibt er weiter: "Nach Walther von der Vogelweide war erst mal Pause, denn die Welt hatte Wichtigeres zu tun, als Minnegesängen zu lauschen. Erst musste Amerika entdeckt, der Buchdruck erfunden, der Dreißigjährige Krieg ausgefochten, die Französische Revolution zu Ende gebracht und das Wiener Schnitzel patentiert werden, bevor es mit den Liedermachern weitergehen konnte" (S.121). Später erinnert Broder an die Liedermacher auf "Burg Waldeck" in den 60er Jahren und zitiert das österreichisches Original Dr. Dr. Dr. Rolf Schwendter, von dem der Satz stammt: "Die Maturantinnen sind alle Masturbantinnen." Nun ja, Sexreporte aus jenen Tagen kommen zu anderen Ergebnissen. Der Vielfachdoktor hatte offenbar Zukunftsvisionen. :-))
Der "Pettycoat" und der "Minirock" sind Themen im Buch, auch das Poesiealbum, das heute durch Facebook ersetzt worden ist und schließlich auch die "Prügelstrafe", die in Westdeutschland erst 1973 gesetzlich abgeschafft wurde. Allerdings erklärte das Bayrische Oberste Landgericht "ein gewohnheitsrechtliches Züchtigungsrecht" weiterhin für legal. Man schrieb bereits das Jahr 1980 als der letzte bayrische Lehrer auf die Watschn als pädagogisches Instrument verzichtete (vgl.: S.150). Miersch schreibt zu Recht, dass sich diesbezüglich die Zeiten gebessert haben. "Niemand hat heute noch Verständnis für Sadisten im Schuldienst und prügelnde Eltern." (S.151).

Schallend gelacht habe ich als ich Broders begriffliche Ausführungen zu Marcuses "Repressiver Toleranz" gelesen habe, von der er mutmaßt, dass es sich um einen bloßen Vertipper handelt und eigentlich "Depressive Toleranz" heißen sollte. Broder zeigt sehr schön an Beispielen auf, wie die Vertreter der "Frankfurter Schule" in ihren Betrachtungen mit zweierlei Maß gemessen haben und dass ihnen sophistische Deutungsmuster nicht fremd waren. Seine Begründung, weshalb sich im Hier und Heute die "Repressive bzw. Depressive Toleranz" vermutlich vollständig durchgesetzt hat, können sie auf Seite 160 nachlesen. Lach.

Sehr gelungen auch ist die Begriffsdefinition zum "Deutschen Schäferhund", zur "Sonntagskleidung", zum "Tropfenfänger" und zum "Wohlstandbauch", der heute eine soziale Provokation darstellt, wie jeder weiß. Das aber war nicht immer so. Essen ist halt mittlerweile zu einem "falschen Bedürfnis" geworden.

Empfehlenswert.



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